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Kafkas eigene Wohnungen in Prag-3 - Kopieren

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Seine Schwester Ottla konnte hier für kurze Zeit ein billiges, winziges, stilles Haus bei der Prager Burg mieten.

Hier schrieb Kafka auf 15 Quadratmetern abends und nachts und ging spätabends oder sehr früh am Morgen nach Hause.
Auf der Galerie
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege  auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom  peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung  im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse  werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem  nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die  immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet  vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die  eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger  Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die  Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden  Orchesters.
 
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß  und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen  Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen  suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den  Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das  Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend  gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der  Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen  kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden  Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen  Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge  schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide  Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet;  während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub  umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück  mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der  Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in  einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
  
Das nächste Dorf
Mein Großvater pflegte zu sagen: »Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt  in Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum  begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste  Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz  abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden  Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.«
  
Ein Bericht für eine Akademie
 
 
Hohe Herren von der Akademie!
 
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.
 
In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung  nicht nachkommen. Nahezu fünf Jahre trennen mich vom Affentum, eine  Zeit, kurz vielleicht am Kalender gemessen, unendlich lang aber  durchzugaloppieren, so wie ich es getan habe, streckenweise begleitet  von vortrefflichen Menschen, Ratschlägen, Beifall und Orchestralmusik,  aber im Grunde allein, denn alle Begleitung hielt sich, um im Bilde zu  bleiben, weit von der Barriere. Diese Leistung wäre unmöglich gewesen,  wenn ich eigensinnig hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der  Jugend festhalten wollen. Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das  oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich  diesem Joch. Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die  Erinnerungen immer mehr. War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen  gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über  der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärtsgepeitschten  Entwicklung immer niedriger und enger; wohler und eingeschlossener  fühlte ich mich in der Menschenwelt, der Sturm, der mir aus meiner  Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug,  der mir die Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er kommt  und durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn  überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin  zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen.  Offen gesprochen, so gerne ich auch Bilder wähle für diese Dinge, offen  gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges  hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An  der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen  Schimpansen wie den großen Achilles. In eingeschränktestem Sinn aber  kann ich doch vielleicht Ihre Anfrage beantworten und ich tue es sogar  mit großer Freude. Das erste, was ich lernte, war: den Handschlag geben;  Handschlag bezeugt Offenheit; mag nun heute, wo ich auf dem Höhepunkte  meiner Laufbahn stehe, zu jenem ersten Handschlag auch das offene Wort  hinzukommen. Es wird für die Akademie nichts    wesentlich Neues beibringen und weit hinter dem zurückbleiben, was man  von mir verlangt hat und was ich beim besten Willen nicht sagen kann –  immerhin, es soll die Richtlinie zeigen, auf welcher ein gewesener Affe  in die Menschenwelt eingedrungen ist und sich dort festgesetzt hat. Doch  dürfte ich selbst das Geringfügige, was folgt, gewiß nicht sagen, wenn  ich meiner nicht völlig sicher wäre und meine Stellung auf allen großen  Varietébühnen der zivilisierten Welt sich nicht bis zur  Unerschütterlichkeit gefestigt hätte:
 
Ich stamme von der Goldküste. Darüber, wie ich  eingefangen wurde, bin ich auf fremde Berichte angewiesen. Eine  Jagdexpedition der Firma Hagenbeck – mit dem Führer habe ich übrigens  seither schon manche gute Flasche Rotwein geleert – lag im Ufergebüsch  auf dem Anstand, als ich am Abend inmitten eines Rudels zur Tränke lief.  Man schoß; ich war der einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei  Schüsse.
 
Einen in die Wange; der war leicht; hinterließ  aber eine große ausrasierte rote Narbe, die mir den widerlichen, ganz  und gar unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfundenen Namen  Rotpeter eingetragen hat, so als unterschiede ich mich von dem unlängst  krepierten, hie und da bekannten, dressierten Affentier Peter nur durch  den roten Fleck auf der Wange. Dies nebenbei.
 
Der zweite Schuß traf mich unterhalb der Hüfte.  Er war schwer, er hat es verschuldet, daß ich noch heute ein wenig  hinke. Letzthin las ich in einem Aufsatz irgendeines der zehntausend  Windhunde, die sich in den Zeitungen über mich auslassen: meine  Affennatur sei noch nicht ganz unterdrückt; Beweis dessen sei, daß ich,  wenn Besucher kommen, mit Vorliebe die Hosen ausziehe, um die  Einlaufstelle des Schusses zu zeigen. Dem Kerl sollte jedes Fingerchen  seiner schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden. Ich, ich darf meine  Hosen ausziehen, vor wem es mir beliebt; man wird dort nichts finden  als einen wohlgepflegten Pelz und die Narbe nach einem – wählen wir hier  zu einem bestimmten Zwecke ein bestimmtes Wort, das aber nicht  mißverstanden werden wolle – die Narbe nach einem frevelhaften Schuß.  Alles liegt offen zutage; nichts ist zu verbergen; kommt es auf Wahrheit  an, wirft jeder Großgesinnte die allerfeinsten Manieren ab. Würde  dagegen jener Schreiber die Hosen ausziehen, wenn Besuch kommt, so hätte  dies allerdings ein anderes Ansehen, und ich will es als Zeichen der Vernunft gelten lassen, daß er es nicht tut. Aber dann mag er mir auch mit seinem Zartsinn vom Halse bleiben!
 
  
Nach jenen Schüssen erwachte ich – und hier  beginnt allmählich meine eigene Erinnerung – in einem Käfig im  Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers. Es war kein vierwandiger  Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste festgemacht;  die Kiste also bildete die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig zum  Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit  eingebogenen, ewig zitternden Knien, und zwar, da ich zunächst  wahrscheinlich niemanden sehen und immer nur im Dunkel sein wollte, zur  Kiste gewendet, während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch  einschnitten. Man hält eine solche Verwahrung wilder Tiere in der  allerersten Zeit für vorteilhaft, und ich kann heute nach meiner  Erfahrung nicht leugnen, daß dies im menschlichen Sinn tatsächlich der  Fall ist.
 
Daran dachte ich aber damals nicht. Ich war zum  erstenmal in meinem Leben ohne Ausweg; zumindest geradeaus ging es  nicht; geradeaus vor mir war die Kiste, Brett fest an Brett gefügt. Zwar  war zwischen den Brettern eine durchlaufende Lücke, die ich, als ich  sie zuerst entdeckte, mit dem glückseligen Heulen des Unverstandes  begrüßte, aber diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum  Durchstecken des Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu  verbreitern.
 
Ich soll, wie man mir später sagte, ungewöhnlich  wenig Lärm gemacht haben, woraus man schloß, daß ich entweder bald  eingehen müsse oder daß ich, falls es mir gelingt, die erste kritische  Zeit zu überleben, sehr dressurfähig sein werde. Ich überlebte diese  Zeit. Dumpfes Schluchzen, schmerzhaftes Flöhesuchen, müdes Lecken einer  Kokosnuß, Beklopfen der Kistenwand mit dem Schädel, Zungenblecken, wenn  mir jemand nahekam – das waren die ersten Beschäftigungen in dem neuen  Leben. In alledem aber doch nur das eine Gefühl: kein Ausweg. Ich kann  natürlich das damals affenmäßig Gefühlte heute nur mit Menschenworten  nachzeichnen und verzeichne es infolgedessen, aber wenn ich auch die  alte Affenwahrheit nicht mehr erreichen kann, wenigstens in der Richtung  meiner Schilderung liegt sie, daran ist kein Zweifel.
 
Ich hatte doch so viele Auswege bisher gehabt und nun keinen mehr. Ich war festgerannt. Hätte man mich angenagelt, meine Freizügigkeit wäre dadurch nicht kleiner geworden. Warum das? Kratz  dir das Fleisch zwischen den Fußzehen auf, du wirst den Grund nicht  finden. Drück dich hinten gegen die Gitterstange, bis sie dich fast  zweiteilt, du wirst den Grund nicht finden. Ich hatte keinen Ausweg,  mußte mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben.  Immer an dieser Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt. Aber Affen  gehören bei Hagenbeck an die Kistenwand – nun, so hörte ich auf, Affe zu  sein. Ein klarer, schöner Gedankengang, den ich irgendwie mit dem Bauch  ausgeheckt haben muß, denn Affen denken mit dem Bauch.
 
Ich habe Angst, daß man nicht genau versteht, was  ich unter Ausweg verstehe. Ich gebrauche das Wort in seinem  gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit.  Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als  Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennengelernt, die  sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder  damals noch heute. Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter  Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen  zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Oft habe  ich in den Varietés vor meinem Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an  der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie  schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer  trug den anderen an den Haaren mit dem Gebiß. ›Auch das ist  Menschenfreiheit‹, dachte ich ›selbstherrliche Bewegung.‹ Du Verspottung  der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des  Affentums bei diesem Anblick.
 
Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen  Ausweg; rechts, links, wohin immer; ich stellte keine anderen  Forderungen; sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung sein; die  Forderung war klein, die Täuschung würde nicht größer sein.  Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen  stillestehen, angedrückt an eine Kistenwand.
Heute sehe ich klar: ohne größte innere Ruhe  hätte ich nie entkommen können. Und tatsächlich verdanke ich vielleicht  alles, was ich geworden bin, der Ruhe, die mich nach den ersten Tagen  dort im Schiff überkam. Die Ruhe wiederum aber verdanke ich wohl den  Leuten vom Schiff.
 
Es sind gute Menschen, trotz allem. Gerne erinnere ich mich noch heute an den Klang ihrer schweren Schritte, der damals in meinem  Halbschlaf widerhallte. Sie hatten die Gewohnheit, alles äußerst langsam  in Angriff zu nehmen. Wollte sich einer die Augen reiben so hob er die  Hand wie ein Hängegewicht. Ihre Scherze waren grob, aber herzlich. Ihr  Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeutenden  Husten gemischt. Immer hatten sie im Mund etwas zum Ausspeien und wohin  sie ausspien war ihnen gleichgültig. Immer klagten sie, daß meine Flöhe  auf sie überspringen; aber doch waren sie mir deshalb niemals ernstlich  böse; sie wußten eben, daß in meinem Fell Flöhe gedeihen und daß Flöhe  Springer sind; damit fanden sie sich ab. Wenn sie dienstfrei waren,  setzten sich manchmal einige im Halbkreis um mich nieder; sprachen kaum,  sondern gurrten einander nur zu; rauchten, auf Kisten ausgestreckt, die  Pfeife; schlugen sich aufs Knie, sobald ich die geringste Bewegung  machte; und hie und da nahm einer einen Stecken und kitzelte mich dort,  wo es mir angenehm war. Sollte ich heute eingeladen werden, eine Fahrt  auf diesem Schiffe mitzumachen, ich würde die Einladung gewiß ablehnen,  aber ebenso gewiß ist, daß es nicht nur häßliche Erinnerungen sind,  denen ich dort im Zwischendeck nachhängen könnte.
 
Die Ruhe, die ich mir im Kreise dieser Leute  erwarb, hielt mich vor allem von jedem Fluchtversuch ab. Von heute aus  gesehen scheint es mir, als hätte ich zumindest geahnt, daß ich einen  Ausweg finden müsse, wenn ich leben wolle, daß dieser Ausweg aber nicht  durch Flucht zu erreichen sei. Ich weiß nicht mehr, ob Flucht möglich  war, aber ich glaube es; einem Affen sollte Flucht immer möglich sein.  Mit meinen heutigen Zähnen muß ich schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken  vorsichtig sein, damals aber hätte es mir wohl im Lauf der Zeit gelingen  müssen, das Türschloß durchzubeißen. Ich tat es nicht. Was wäre damit  auch gewonnen gewesen? Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt,  wieder eingefangen und in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder  ich hätte mich unbemerkt zu anderen Tieren, etwa zu den Riesenschlangen  mir gegenüber flüchten können und mich in ihren Umarmungen ausgehaucht;  oder es wäre mir gar gelungen, mich bis aufs Deck zu stehlen und über  Bord zu springen, dann hätte ich ein Weilchen auf dem Weltmeer  geschaukelt und wäre ersoffen. Verzweiflungstaten. Ich rechnete nicht so  menschlich, aber unter dem Einfluß meiner Umgebung verhielt ich mich  so, wie wenn ich gerechnet hätte.
Ich rechnete nicht, wohl aber beobachtete ich in aller Ruhe. Ich sah  diese Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die  gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser  Mensch oder diese Menschen gingen also unbehelligt. Ein hohes Ziel  dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie sie werden  würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar  unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die  Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau  dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat. Nun war an diesen  Menschen an sich nichts, was mich sehr verlockte. Wäre ich ein Anhänger  jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg  vorgezogen, der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte.  Jedenfalls aber beobachtete ich sie schon lange vorher, ehe ich an  solche Dinge dachte, ja die angehäuften Beobachtungen drängten mich erst  in die bestimmte Richtung.
 
Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken  konnte ich schon in den ersten Tagen. Wir spuckten einander dann  gegenseitig ins Gesicht; der Unterschied war nur, daß ich mein Gesicht  nachher reinleckte, sie ihres nicht. Die Pfeife rauchte ich bald wie ein  Alter; drückte ich dann auch noch den Daumen in den Pfeifenkopf,  jauchzte das ganze Zwischendeck; nur den Unterschied zwischen der leeren  und der gestopften Pfeife verstand ich lange nicht.
 
  
Die meiste Mühe machte mir die  Schnapsflasche. Der Geruch peinigte mich; ich zwang mich mit allen  Kräften; aber es vergingen Wochen, ehe ich mich überwand. Diese inneren  Kämpfe nahmen die Leute merkwürdigerweise ernster als irgend etwas sonst  an mir. Ich unterscheide die Leute auch in meiner Erinnerung nicht,  aber da war einer, der kam immer wieder, allein oder mit Kameraden, bei  Tag, bei Nacht, zu den verschiedensten Stunden; stellte sich mit der  Flasche vor mich hin und gab mir Unterricht. Er begriff mich nicht, er  wollte das Rätsel meines Seins lösen. Er entkorkte langsam die Flasche  und blickte mich dann an, um zu prüfen, ob ich verstanden habe; ich  gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit überstürzter Aufmerksamkeit  zu; einen solchen Menschenschüler findet kein Menschenlehrer auf dem  ganzen Erdenrund; nachdem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund;  ich mit meinen Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickte, zufrieden mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von  allmählicher Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge und Breite  nach, wo es sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht  einen Schluck; ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern,  verunreinige mich in meinem Käfig, was wieder ihm große Genugtuung  macht; und nun weit die Flasche von sich streckend und im Schwung sie  wieder hinaufführend, trinkt er sie, übertrieben lehrhaft zurückgebeugt,  mit einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzu großem Verlangen, kann  nicht mehr folgen und hänge schwach am Gitter, während er den  theoretischen Unterricht damit beendet, daß er sich den Bauch streicht  und grinst.
 
Nun erst beginnt die praktische Übung. Bin ich  nicht schon allzu erschöpft durch das Theoretische? Wohl, allzu  erschöpft. Das gehört zu meinem Schicksal. Trotzdem greife ich, so gut  ich kann, nach der hingereichten Flasche; entkorke sie zitternd; mit dem  Gelingen stellen sich allmählich neue Kräfte ein; ich hebe die Flasche,  vom Original schon kaum zu unterscheiden; setze sie an und – und werfe  sie mit Abscheu, mit Abscheu, trotzdem sie leer ist und nur noch der  Geruch sie füllt, werfe sie mit Abscheu auf den Boden. Zur Trauer meines  Lehrers, zur größeren Trauer meiner selbst; weder ihn noch mich  versöhne ich dadurch, daß ich auch nach dem Wegwerfen der Flasche nicht  vergesse, ausgezeichnet meinen Bauch zu streichen und dabei zu grinsen.
 
Allzuoft nur verlief so der Unterricht. Und zur  Ehre meines Lehrers: er war mir nicht böse; wohl hielt er mir manchmal  die brennende Pfeife ans Fell, bis es irgendwo, wo ich nur schwer  hinreichte, zu glimmen anfing, aber dann löschte er es selbst wieder mit  seiner riesigen guten Hand; er war mir nicht böse, er sah ein, daß wir  auf der gleichen Seite gegen die Affennatur kämpften und daß ich den  schwereren Teil hatte.
 
Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für  mich, als ich eines Abends vor großem Zuschauerkreis – vielleicht war  ein Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den  Leuten – als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem  Käfig versehentlich stehengelassene Schnapsflasche ergriff, unter  steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte,  an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker vom  Fach, mit rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und  wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche hinwarf; zwar vergaß  den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil  es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut »Hallo!«  ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die  Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: »Hört nur, er spricht!« wie  einen Kuß auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühlte.
 
Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die  Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus  keinem anderen Grund. Auch war mit jenem Sieg noch wenig getan. Die  Stimme versagte mir sofort wieder; stellte sich erst nach Monaten ein;  der Widerwille gegen die Schnapsflasche kam sogar noch verstärkter. Aber  meine Richtung allerdings war mir ein für allemal gegeben.
 
  
Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur  übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten, die mir  offenstanden: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich zögerte nicht. Ich  sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das ist der  Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in  ihn, bist du verloren.
 
Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt,  wenn man muß; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt  rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche; man  zerfleischt sich beim geringsten Widerstand. Die Affennatur raste, sich  überkugelnd, aus mir hinaus und weg, so daß mein erster Lehrer selbst  davon fast äffisch wurde, bald den Unterricht aufgeben und in eine  Heilanstalt gebracht werden mußte. Glücklicherweise kam er bald wieder  hervor.
 
Aber ich verbrauchte viele Lehrer, ja sogar  einige Lehrer gleichzeitig. Als ich meiner Fähigkeiten schon sicherer  geworden war, die Öffentlichkeit meinen Fortschritten folgte, meine  Zukunft zu leuchten begann, nahm ich selbst Lehrer auf, ließ sie in fünf  aufeinanderfolgenden Zimmern niedersetzen und lernte bei allen  zugleich, indem ich ununterbrochen aus einem Zimmer ins andere sprang.  Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen  Seiten ins erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich  gestehe aber auch ein: ich überschätzte es nicht, schon damals nicht,  wieviel weniger heute. Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die  Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Das wäre an sich  vielleicht gar nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem  Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg  verschaffte. Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die  Büsche schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche  geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, daß nicht  die Freiheit zu wählen war.
 
Überblicke ich meine Entwicklung und ihr  bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden. Die Hände  in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb  sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster. Kommt Besuch,  empfange ich ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario sitzt im  Vorzimmer; läute ich, kommt er und hört, was ich zu sagen habe. Am Abend  ist fast immer Vorstellung, und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde  Erfolge. Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen  Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich  eine kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach  Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat  nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das  erkenne nur ich, und ich kann es nicht ertragen.
 
Im ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich  erreichen wollte. Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen.  Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse  verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie,  habe ich nur berichtet.

Quelle: http://www.zeno.org/Literatur/M/Kafka,+Franz/Erz%C3%A4hlungen+und+andere+Prosa/Ein+Landarzt

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