Direkt zum Seiteninhalt

Rilke

9DE
DU, ICH BIN

RILKE
an die Schriftstellerin
Lou Andreas-Salomé
9. Juni 1897,
Mittwoch abends.
                 

Von Dir durch Regengassen stehle
Ich mich so schnell und mir geschieht,
Dass jeder, der des Weges zieht,
Die selige, erlöste Seele
In meinen Augen flammen sieht.

Und ich will ängstlich auf der Reise
Mein Glück verbergen vor dem Hauf.
Ich trag es heim in schnellem Lauf;
Erst tief in Nächten schließ’ ichs leise
Wie eine Gold'ne Truhe auf.
Da gibt es reiche Kronenreiser,
Und Sterne sind als Steine drin.
Und Keiner ahnt es. Du, ich bin
Bei meinen Schätzen wie ein Kaiser
Und weiß von meiner Kaiserin.

Dann hol’ ich seine gold’nen Schätze
Aus dunkler Tiefe Zoll für Zoll
Und weiß nicht, was ich schauen soll;
Denn meiner Stube alle Plätze
Sind übervoll, sind übervoll.
Es ist ein Reichthum ohne gleichen,
Wie ihn die Nacht noch nie geschaut,
Wie ihn die Nacht noch nie bethaut;
Und mehr‚ als je an Liebeszeichen
Empfangen eine Fürstenbraut.
Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch,  dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem  grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken: Ist es möglich, denkt es, dass man noch nichts  Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat?
Ist es  möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken  und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie  eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und  Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche  des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, dass man sogar diese  Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich  langweiligen Stoff überzogen hat, so dass sie aussieht wie die Salonmöbel  in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, dass die ganze Weltgeschichte  missverstanden worden ist? Ist es möglich, dass die Vergangenheit falsch  ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man  von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu  sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiter schwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Diese Website verwendet Cookies. When using this website you agree on using cookies.
Zurück zum Seiteninhalt