Kafka und die Pawlatsche - Kopieren
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Foto: typischer Pawlatschen-Innenhof in Prag
Pawlatsche: […]
Das tschechische Wort pavlač bezeichnet einen offenen
Hauseingang. [...] In den sogenannten Pawlatschenhäusern
erfolgt ein Zugang zu den Wohnungen ausschließlich über die
Pawlatschen um den Pawlatschenhof.
Der vertikale Zugang der einzelnen Ebenen erfolgt über einen
ebenerdigen Zugang im Innenhof. Dahinter windet sich eine oft schmale
Steintreppe nach oben, ähnlich einer Wendeltreppe in einem Turm. Von
dieser Treppe aus gelangt man auf die einzelnen Pawlatschengänge.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pawlatsche,
23.08.2023
Foto: Kafkas Pawlatschen-Haus. Die Bilder der Fassade waren zu Kafkas Zeiten übermalt und somit nicht sichtbar.
Kafkas Familie lebte hier von 1889 bis 1892. Franz Kafka war also etwa 6 bis 9 Jahre alt und verlebte hier den Großteil seiner „Grundschulzeit“. Die Wohnung befand sich im ersten Stock des Hauses.
"Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren. Du erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn. Ich will nicht sagen, daß das unrichtig war, vielleicht war damals die Nachtruhe auf andere Weise wirklich nicht zu verschaffen, ich will aber damit Deine Erziehungsmittel und ihre Wirkung auf mich charakterisieren. Ich war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon. Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-Wasser-Bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.
Das war damals ein kleiner Anfang nur, aber dieses mich oft beherrschende Gefühl der Nichtigkeit (ein in anderer Hinsicht allerdings auch edles und fruchtbares Gefühl) stammt vielfach von Deinem Einfluß. Ich hätte ein wenig Aufmunterung, ein wenig Freundlichkeit, ein wenig Offenhalten meines Wegs gebraucht, statt dessen verstelltest Du mir ihn, in der guten Absicht freilich, daß ich einen anderen Weg gehen sollte. Aber dazu taugte ich nicht. Du muntertest mich zum Beispiel auf, wenn ich gut salutierte und marschierte, aber ich war kein künftiger Soldat, oder Du muntertest mich auf, wenn ich kräftig essen oder sogar Bier dazu trinken konnte, oder wenn ich unverstandene Lieder nachsingen oder Deine Lieblingsredensarten Dir nachplappern konnte, aber nichts davon gehörte zu meiner Zukunft. "
(aus: Franz Kafka: "Brief an den Vater", https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/vater/vater.html)
(aus: Franz Kafka: "Brief an den Vater", https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/vater/vater.html)
Der großzügige und empathische Franz Kafka
„Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl* bekommen und hatte große Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem großen und dem kleinen Ring saß. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber musste ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer*, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir). Jedenfalls war ich zum Schluss, auch moralisch, so erschöpft, dass ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte.“
(aus: Briefe an Milena, https://www.odaha.com/sites/default/files/BriefeAnMilena.pdf)